Sind Illustratoren die neuen Künslter?
Die Londonerin Anjelica Roselyn hält in ihren iPad Zeichnungen die Fashion-Welt fest. Somit überträgt Sie das einstige haptische Medium ins Digitale.
Der Umriss des violetten, ärmellosen Kleidungsstücks ist linienhaft skizziert. Dieses Stück wurde im Jahr 1996 von Gianni Versace entworfen – eine äußerst bedeutende Zeit für die Modewelt. Es war die Ära, in der Naomi Campbell, Linda Evangelista, Claudia Schiffer, Christy Turlington und Cindy Crawford die Bühne betraten und die Ära der Supermodels einläuteten. Diese fünf Frauen verkörperten Eleganz, Stil und Selbstbewusstsein in einer nie zuvor gesehenen Weise.
In Anjelica Roselyns Illustration „Abundance„ aus dem Jahr 2021 scheint eine ähnliche Aura der Fülle und Macht zu herrschen. Obwohl der gedeckte Tisch reichlich mit Orangen, gedrehten Kerzen, einem Teeservice und Kuchen gedeckt ist, scheint die Frau kaum darauf zu achten. Ihre Aufmerksamkeit liegt nicht auf dem materiellen Überfluss, sondern auf etwas, das jenseits der physischen Welt liegt – vielleicht auf ihren Gedanken, Träumen oder inneren Reichtümern. Die Illustration fängt die Idee ein, dass wahre Fülle nicht unbedingt im äußeren Besitz liegt, sondern in der inneren Zufriedenheit und Erfüllung gefunden werden kann.
Anstelle einer Karriere als Modedesignerin zu folgen, entschied sich Anjelica Roselyn dafür, sich auf ihre digitalen Zeichnungen zu konzentrieren, die sie mit einem iPad anfertigt. Sie erklärt: „Die Kombination aus unterschiedlichen Zeichnungstechniken mit den Pinseln von Photoshop hat es mir ermöglicht, meine Zeichnungen auf die nächste Ebene zu bringen.“ Roselyn betont, dass sie ausschließlich frei Hand illustriert, ohne Vorlagen zu verwenden. „Auf diese Weise kann ich meine eigenen, einzigartigen Formen, Gesichter und Linien kreieren“, fügt sie hinzu. Diese Entscheidung ermöglicht es ihr, ihre künstlerische Vision vollständig auszudrücken und ihre Werke mit persönlicher Note zu gestalten.
Für Anjelica Roselyn ist auch die Körperhaltung ihrer gezeichneten Figuren von Bedeutung. „Als ich mit dem Illustrieren begann, konzentrierte ich mich auf dynamische Posen wie Gehen, Laufen oder Laufsteg-Posen. Jetzt strebe ich nach mehr Vielfalt in meinen Zeichnungen“, erklärt sie. In letzter Zeit tendiert sie dazu, statische Posen wie Liegen oder Sitzen zu verwenden. „Dies hängt in der Regel von der Kleidung oder Kollektion ab, auf die ich mich konzentriere, und der weitere Zeichenprozess verläuft dann sehr instinktiv“, fügt sie hinzu. Durch die Auswahl verschiedener Posen verleiht sie ihren Illustrationen eine zusätzliche Dimension und ermöglicht es den Betrachtern, die Mode aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten.
Ein wiederkehrendes Motiv in den Arbeiten von Anjelica Roselyn ist das Geschehen während der Fashion Week. Dieser Zeitraum ist bekannt dafür, dass Modehäuser ihre neuesten Kreationen vor einem ausgewählten Publikum präsentieren. Ein besonderer Moment wurde eingefangen, als sich die US-amerikanische Schauspielerin und „Dune“-Darstellerin Zendaya Ende Januar 2024 bei der Haute Couture Show in einer surrealistischen Sci-Fi-Robe von Schiaparelli präsentierte. Roselyn hielt diesen Moment in einer Illustration fest, die die Faszination und die Ästhetik dieses besonderen Augenblicks einfängt. Durch ihre Kunst schafft es Roselyn, die Magie und den Glamour der Fashion Week für ihre Betrachter einzufangen und die zeitgenössische Mode auf kreative und inspirierende Weise zu zelebrieren.
„Mir liegt viel an kräftigen Farben, Bewegung und Posen, die mich an die Modestrecken erinnern, die ich als Kind bewundert habe“, erklärt Roselyn. „Meine Inspiration für eine Zeichnung kann vielfältig sein. Manchmal ist es die Pose des Models, die Umgebung oder einfach das Farbschema.“ Doch am wichtigsten ist für sie das Kleidungsstück selbst und die Art und Weise, wie es getragen wird. „Besonders faszinierend finde ich es, wenn das Design asymmetrisch, farbenfroh und gewagt ist“, fügt sie hinzu. „Diese Stilelemente machen das Zeichnen noch spannender und ermöglichen es mir, meine kreative Vision auf eine einzigartige Weise auszudrücken.“
Seit der Jahrhundertwende nutzen Illustratoren zunehmend die Möglichkeiten des digitalen Zeitalters. Computerprogramme finden sich heute gleichberechtigt neben den klassischen Zeichentechniken. Hinzu kommt die Rolle der sozialen Medien. „Heute haben wir das Glück, dass Illustrationen nicht nur in Printpublikationen zu finden sind, sondern dass Websites und soziale Medien Modeillustratoren eine Plattform bieten, auf der sie ihre eigenen Arbeiten selbst kuratieren können“, kommentiert Roselyn. Diese Entwicklung ermöglicht es Künstlern wie ihr, ihre Werke einem globalen Publikum zugänglich zu machen und direkte Verbindungen zu ihren Fans und Followern aufzubauen. Durch die Digitalisierung und die zunehmende Bedeutung von sozialen Medien können Illustratoren ihre kreative Vision in Echtzeit teilen und sich mit einer breiten Community von Gleichgesinnten vernetzen.
In den 1920er-Jahren begannen Künstler wie René Gruau und George Barbier damit, die ersten Zeichnungen für Publikationen wie Vogue und Harper’s Bazaar anzufertigen. Doch dann setzte die Modefotografie ein. Angefangen bei Irving Penn, Richard Avedon, Guy Bourdin und Steven Meisel wurde dieser Pfad von Ellen von Unwerth, Harley Weir, Juergen Teller und zahlreichen anderen Fotografen fortgeführt. Trotzdem blieb die Kunstform der Zeichnung bestehen, da ihr heute eine eigene Funktion zugewiesen wird: Statt einer naturalistisch genauen Wiedergabe eines Motivs kann sie die Stimmung eines Designs einfangen.
Im Gegensatz zur Fotografie haben Illustratoren die Freiheit, ihre Schwerpunkte individuell zu setzen und dadurch eine einzigartige Perspektive zu schaffen. „Wir können selbst entscheiden, worauf wir uns in einer Zeichnung konzentrieren wollen“, erklärt Anjelica Roselyn. „Bei Modethemen haben wir die Wahl, auf welche Aspekte wir den Fokus legen möchten, sei es Accessoires, Make-up, Silhouetten oder andere Details.“ Wenn ein Illustrator eine Kollektion darstellt, wird jedes Ergebnis vollkommen anders aussehen. „Das macht unsere Arbeit so besonders aus.“ Die Illustration ermöglicht es den Künstlern, ihre persönliche Interpretation und Kreativität in die Darstellung von Mode einzubringen, und trägt somit zur Vielfalt und Einzigartigkeit des visuellen Ausdrucks in der Modebranche bei.