Kurzzeitig herrschte eine äußerst aggressive Stimmung auf der Kunstbiennale von Venedig, dem größten Kunstfest der Welt. Eine kleine Gruppe wütender Menschen durchstreifte am vergangenen Mittwoch die Giardini, den Park der Biennale, und zog von den Ausstellungshäusern Israels zu denen der USA und dann weiter zum Deutschen Pavillon.
Einige Männer schrien so laut, dass man sich Sorgen um ihre gefährlich angeschwollenen Halsadern machte. Es war offensichtlich keine inszenierte Kunstperformance. „Viva, viva, Palästina“, riefen die Menschen, gefolgt von „Boycott Germany!“ und „Fuck Olaf Scholz!“. Sie verteilten Flugblätter, auf denen sowohl ein Boykott Deutschlands als auch das Ende jeglichen „Dialogs“ gefordert wurde. Die Menschen in der langen Warteschlange vor dem deutschen Pavillon ließen sich nicht beeindrucken, ebenso wenig das italienische Sicherheitspersonal, das unauffällig im Hintergrund blieb. Es wurde bereits gemunkelt, dass ein Sturm auf den Pavillon bevorstehen könnte, von Blockaden und Zerstörung war die Rede. Doch diese Gruppe war lediglich rhetorisch aggressiv und verschwand bald.
Vielleicht schreckte sie der tonnenschwere Erdhaufen ab, der den Haupteingang des von den Nazis gestalteten Hauses für die kommenden Monate wie eine Barrikade versperrt. Oder vielleicht waren es die still wartenden Menschen, die sich für die Kunst hinter dem Erdhaufen interessierten.
Alle zwei Jahre reisen tausende Kuratoren, Künstler, Kritiker, Galeristen, Sammler und Kunstbegeisterte aus aller Welt zur Eröffnung der Kunstbiennale nach Venedig. Ist die Wartezeit ein Indikator für die Qualität der Kunst? Lohnt es sich überhaupt zu warten? In diesem Fall: absolut! Selten hat der deutsche Pavillon so beeindruckt. Und selten war die ästhetische Erfahrung so vielfältig. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass sich diesmal zwei Künstler den Ausstellungsraum teilen müssen, deren Kunst auf den ersten Blick kaum etwas gemeinsam hat.
Auch auf den zweiten und dritten Blick nicht. Auf der einen Seite Yael Bartana, geboren 1970 in Kfar Yehezkel, Israel, bekannt für ihre Videokunst, die bereits im Guggenheim in New York, der Tate Modern in London und dem Centre Pompidou in Paris gezeigt wurde. Auf der anderen Seite Ersan Mondtag, geboren 1987 in West-Berlin, der bisher vor allem im Theater tätig war, etwa am Maxim Gorki Theater, dem Berliner Ensemble und den Münchner Kammerspielen. Bartana lässt auf riesigen Bildschirmen mit düsteren Industrial-Beats ein jüdisches Raumschiff durch den Nazi-Pavillon schweben. In einem Interview mit der ZEIT hatte sie bereits die Idee hinter diesem ewig durch das All fliegenden Generationen-Schiff enthüllt, in dem man sogar durch Wälder und Obstplantagen wandeln kann.
Es geht Bartana um nichts weniger als um Erlösung. „Meine Kunst entsteht immer aus meiner Erfahrung als Israelin heraus“, sagt die Künstlerin. „Mir erscheint das Aufbrechen ins All wie die ultimative Diaspora.“ Ihre Installation ist eine fantastische Neuerschaffung der Welt aus dem Geist der Kabbala, der jüdischen Mystik, heraus. Frauen in weißen Gewändern feiern in einer Videoaufnahme die Ankunft des Raumschiffs mit anmutigen Tänzen, alles gefilmt im dunklen deutschen Wald, nur von oben beleuchtet, wie aus dem Himmel. Bartana spielt eindeutig mit der Ästhetik von Leni Riefenstahl.
In einer ihrer früheren Arbeiten setzte sich die israelische Künstlerin sogar selbst als Riefenstahl in Szene. Bartanas Installation in Venedig ist herausfordernd, manchmal überfordernd für das Publikum. Darf man so etwas beeindruckend finden? Ist es nur beunruhigend? Kommt die feine Ironie an? Während Bartanas Ästhetik High-Tech ist, eine Mischung aus Stilen des frühen 20. Jahrhunderts mit Science-Fiction-Elementen, kühl-elegant animiert am Computer, arbeitet Ersan Mondtag mit Low-Tech-Mitteln.
Er erzählt im deutschen Pavillon die Geschichte seines Großvaters Hasan Aygün, der als sogenannter Gastarbeiter aus der Türkei nach Berlin kam und bis zu seiner Pensionierung in der Firma Eternit arbeitete, die aus asbesthaltigem Faserzement Dachplatten und Blumenkästen herstellte. Im Pavillon hängen Ehrenurkunden für 25 Jahre „verdienstvolle Tätigkeit“. Aygün starb kurz nach der Pensionierung an den Folgen des eingeatmeten Asbeststaubs.
Mondtag ließ die Tonnen Aushub vor dem Pavillon schaufeln und symbolisch mit anatolischer Erde vermischen. Vor allem aber ließ er ein kleines, dreistöckig begehbares Geisterhaus im Hauptraum des Pavillons errichten, in dem eine Gruppe von fünf Schauspielern Szenen aus dem Leben seines Großvaters und seiner Familie nachspielt. Diese Geschichte wird nicht über Bildschirme und Avatare vermittelt, sondern über die direkt im Publikum agierenden Darsteller, über auratisch aufgeladene Objekte wie den in einer Vitrine ausgestellten Geldbeutel seines Großvaters, dessen Fahrausweise und Lottoscheine.
Deutschland im Ausstellungsraum
Mondtag ließ sogar echten Staub in den Ausstellungsraum blasen, der sich dem Besucher auf die Kleider und in die Lungen legt. Das Leid, das dem Großvater in Deutschland widerfuhr, soll so unmittelbar wie möglich erfahren werden. Das ist eine Form von Theatralik, die man nicht gerade als subtil bezeichnen kann, eine Ästhetik der Überwältigung, die an manchen Stellen vielleicht etwas zu dick aufträgt.
Die Schauspieler tragen grauen Staub im Gesicht, essen den Staub von Tellern und werden von melodramatischer Musik begleitet. Selbst die Kostüme wirken grob. Im Theater muss sich die Dramatik üblicherweise über eine größere Distanz von der Bühne ins Publikum vermitteln. Hier allerdings steht man direkt im Bühnenbild neben dem sterbenden Großvater – die Mittel hätten allein deshalb schon reduzierter eingesetzt werden können.
Während Bartana mit dem Pathos spielt, wirkt Mondtags Inszenierung unmittelbar. Mehrere Menschen aus dem Publikum brachen in Tränen aus. Schließlich wird der Großvater in einer Art Prozession beerdigt, begleitet von einem Lied, das Albert Ostermaier gedichtet hat. Der tödliche Staub sei das Geschenk, das wir dem Gast gaben, heißt es darin. Eine Ungeheuerlichkeit, an die Mondtag mit seinem „Monument eines unbekannten Menschen“ beklemmend erinnert.
Sowohl Bartana als auch Mondtag hätten den Pavillon allein mit ihrer Kunst gut füllen können. Çağla Ilk, die diesjährige Kuratorin des Pavillons, hat die beiden unter dem vielsagenden Titel „Thresholds“ (auf Deutsch: Schwellen) ausgewählt und zusammengestellt. Ilk, eine Architektin, die früher als Dramaturgin im Theater tätig war und jetzt als Co-Direktorin die Staatliche Kunsthalle Baden-Baden leitet, bewegt sich selbst zwischen den Disziplinen. Vielleicht konnte sie sich deshalb nicht nur für die eine oder den anderen entscheiden? Hat sie deshalb zusätzlich auch Musiker und Klangforscher wie Nicole L’Huillier, Robert Lippok, Jan St. Werner und Michael Akstaller eingeladen?
Die Vier haben La Certosa, eine kleine, kaum bewohnte Insel Venedigs, mit Lautsprechern und Basswoofern in den Wiesen und im Schilf beschallt. Es piepst leise in der Ruine eines Klosters, eine Membran, die in das Geäst eines Baumes gehängt ist, nimmt die Geräusche der Umwelt auf und gibt sie zurück, anderswo wummert der Boden im tiefen Bass, als kämen gleich die Sandwürmer. Wer nach Venedig kommt, sollte diese wunderbare Erfahrung genauso wenig verpassen wie den Besuch des Pavillons. Ein durchdachter gedanklicher Zusammenhang zwischen all diesen Werken ist jedoch schwer zu erkennen.
Dennoch hat Çağla Ilk großartige Arbeit geleistet. Allein deshalb, weil sie mit ihrer Ausstellung geschickt an den verschiedenen Klippen der neueren Kulturdebatten vorbeinavigiert ist. Sie verteidigte den Freiraum der Kunst. Souverän reagierte sie auch, als am vergangenen Mittwoch die Demonstranten kamen. Sie hörte dem Protest zu und deeskalierte dadurch bereits. Nachdem die Gruppe sich entfernt hatte, sammelte Çağla Ilk die zurückgelassenen Boykott-Flugblätter vor dem deutschen Pavillon auf. Der Dialog geht weiter.
Die Kunstbiennale in Venedig ist noch bis zum 24. November zu sehen.
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