Jahrzehntelang hat die Kunstwelt gerätselt, wo sich das Gemälde befindet. Nun ist ein verschollenes Werk von Ernst Ludwig Kirchner, das sich 80 Jahre lang in einer Privatsammlung befand, endlich wieder aufgetaucht. Diese Entdeckung ist eine Sensation auf dem Kunstmarkt.
Kirchner im „Varieté“
Ein Bild von Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938), von dem jahrzehntelang nicht klar war, wo es sich befindet, ist wieder aufgetaucht. Das Ölgemälde „Tanz im Varieté“ aus dem Jahr 1911 befand sich laut Informationen des Münchner Auktionshauses Ketterer 80 Jahre lang in einer Privatsammlung in Baden-Württemberg. Am 7. Juni soll es für einen Schätzpreis von zwei bis drei Millionen Euro versteigert werden. Bislang war es ausschließlich als Schwarz-Weiß-Abbildung bekannt.
Das Werk gehört zum Zyklus Zirkus und Varieté und ist „eines der außergewöhnlich großformatigen Bilder im Werk Kirchners“, so das Auktionshaus. Kirchner inszenierte eine Tanzszene im Scheinwerferkegel mit einem schwarzen Tänzer und einer weißen Tänzerin, umgeben von einer Gruppe weiterer Tänzer. Der Expressionist verarbeitete darin seine Faszination für den Tanz. Das Gemälde zählt zu den Werken, die Kirchner in Dresden zum Thema Zirkus und Varieté malte.
Es gibt Fotografien von Kirchner selbst, die das Gemälde zeigen. Die älteste Aufnahme stammt aus dem Jahr 1912 und zeigt eine Ausstellung der „Brücke“-Maler im Berliner Kunstsalon des Galeristen Fritz Gurlitt. Zum letzten Mal wurde „Tanz im Varieté“ Ende 1923 in Berlin ausgestellt. Danach verlieren sich seine Spuren.
Der gebürtig aus Aschaffenburg stammende Kirchner war Mitbegründer der Künstlervereinigung „Die Brücke“. Mit Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff und dem heute weniger bekannten Fritz Bleyl gründete er die Gruppe 1905 in Dresden.
Brigitte Schad, die Leiterin des Aschaffenburger Kirchnerhauses, bezeichnete den überraschenden Fund ebenfalls als „Sensationsfund“. Sie erklärte, dass diese frühe Epoche Kirchners die beste Zeit des Künstlers war. Das großformatige Bild scheint auch in gutem Zustand zu sein. Die Möglichkeit, dass das Kirchnermuseum das Werk ersteigern könnte, hält sie jedoch bei einem Schätzpreis von mehreren Millionen Euro für unrealistisch.
Lesen Sie auch: Picassos Erfolg geht weiter – Von Bruehl
Kirchner und die Brücke
Am 7. Juni 1905 schlossen sich Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Fritz Bleyl und Karl Schmidt-Rottluff – alle Autodidakten – zur Dresdner Künstlergemeinschaft Brücke zusammen. 1906 schlossen sich Cuno Amiet, Emil Nolde und Max Pechstein als aktive Mitglieder an. In dieser Zeit entwickelte sich Kirchner vom impressionistisch beeinflussten Maler zum Expressionisten. Neben Aktmalerei und Porträts gehörten Landschaften, Stadtansichten und die Welt des Varietés zu seinen bevorzugten Themen.
Doris Große, genannt „Dodo“, eine Modistin aus Dresden, war von 1909 bis 1911 Kirchners Modell und Geliebte. Ab demselben Jahr diente die damals neunjährige Lina Franziska Fehrmann, genannt „Fränzi“, als Modell für die Maler Heckel, Pechstein und Kirchner. Sie wurde im Sommer an den Moritzburger Teichen und im Winter in den Dresdner Ateliers von den Künstlern skizziert, gezeichnet, gemalt und in druckgrafischen Techniken porträtiert. Erst im Juli 1995 wurde in einem Skizzenbuch Kirchners ihr Familienname „Fehrmann“ entdeckt, sodass bei der Nachforschung in Kirchenbüchern ihre Identität festgestellt werden konnte.
Kirchner lebte bis 1911 in Dresden und zog dann nach Berlin. Ausschlaggebend für diese Entscheidung war der mangelnde Erfolg seiner Kunst. In Berlin besserte sich seine Lage zunächst nur wenig. In seinen Bildern war jedoch eine Veränderung bemerkbar. So wurden seine runden Formen nun zackiger, die Striche erschienen nervöser (Kontrast von Landschaft und Großstadt), seine Farben ließen in der Leuchtkraft nach. Straßenszenen tauchten in seinem Werk auf, die heute in der Kirchner-Rezeption sehr gefragt sind. 1911 nahm er mit weiteren Brücke-Künstlern an einer Ausstellung der Neuen Secession, geleitet von Max Pechstein, in Berlin teil.
Im Dezember 1911 gründeten Kirchner und Max Pechstein eine Malschule namens MUIM-Institut („Moderner Unterricht in Malerei“), die jedoch nur zwei Schüler hatte und keinen Erfolg verzeichnete. 1912 lernte er seine langjährige Lebensgefährtin Erna Schilling (1884–1945) kennen. Nach der Teilnahme an der Ausstellung des Sonderbunds in Köln verfasste Kirchner 1913 eine Chronik über die „Brücke“, in der er seine Bedeutung für die Künstlergruppe stark überbetonte. Daraufhin kam es zum Streit mit den anderen verbliebenen Mitgliedern, in dessen Folge Kirchner austrat. Das führte zur endgültigen Auflösung der Gruppe.